Opengeofiction – Die exakten Koordinaten des Imaginären

Vor zehn Jahren dachte ich als versessener Zeichner imaginärer Städte und Landschaften noch: Wie klasse wäre es, wenn wir die auf Ruby on Rails basierende OpenStreetMap-Software auf einen eigenen Server kopieren und die Datenbank von einem weißen Blatt Papier (oder genauer: einem Planeten voll Wasser) ausgehend mit einer eigenen Welt befüllen könnten? Ich hatte weit mehr als zwei Jahrzehnte lang fiktive Stadtpläne per Hand gezeichnet, allerhöchstens ein paar digital erzeugte Layer über eine Handzeichnung gelegt und gerade erst ein paar Jahre vorher angefangen, realistisch wirkende Stadtpläne fiktiver Orte am Computer zu zeichnen. Leider habe ich ein gewöhnliches Vektorzeichenprogramm genutzt und somit weder tatsächliche digitale und „fiktive“ Geodaten geschaffen, noch ein topologisch auch nur annäherungsweise konsistentes System aufgebaut. Aber grafisch hatte ich aus meiner Sicht einen guten Stand erreicht: Stadtpläne, die, in unserer Küche aufgehängt, die Leute jedes Mal bis zur Auflösung rätseln ließen, welche deutsche Großstadt sie dort vor sich haben.

Im Herbst 2012 kontaktierte mich dann aus heiterem Himmel ein netter Hobbykollege in Sachen Geofiktion (auch als Fantasie-Kartografie bezeichnet) aus dem Frankfurter Umland und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm genau so etwas aufzubauen. So entstand Opengeofiction und ging im September 2013 offiziell online. Mein im Jahre 2009 erfundenes Land Kalm und ein paar kleinere Nachbarländer östlich davon fanden sofort ihren Platz auf der Karte und erste Dinge wurden mit OpenStreetMap-Editoren wie zum Beispiel JOSM eingetragen. Seitdem füllt sich der neue Planet in kollaborativer Form Stück für Stück – und qualitativ haben mich gerade in Sachen landschaftlicher Elemente viele andere bereits links überholt, obwohl ich mich am Anfang als noch einen sehr kompetenten Zeichner realistisch wirkender fiktiver Karten sah. Ganz davon abgesehen, dass ich mich wegen Familie, Beruf und nun auch noch Geoinformatik-Fernstudium diesem Hobby und insbesondere dem Zeichnen in Opengeofiction derzeit leider kaum widmen kann, ist es aus meiner Sicht ein höchst spannendes Projekt, das sogar ein Nährboden für wissenschaftliche Fragestellungen sein kann.

Eine ganz besondere Eigenschaft von Opengeofiction ist die wirklich exakte „Georeferenzierung“ fiktiver Elemente. So kann man, wie bei Punktobjekten in OpenStreetMap auch, die Koordinaten eingetragener Objekte bis auf viele Nachkommastellen genau ermitteln, wie zum Beispiel die Position des Leuchtturms an der Tharotter Spitze in der Küstenmetropole Tarott – natürlich unter Berücksichtigung von Ungenauigkeiten beim „Mappen“ des betreffenden Objekts.

Welchen Zweck verfolgen also die vielen, überwiegend männlichen „Mapper“ dieser imaginären Welt? Wie kommt man zu solch einem akribischen und zeitaufwändigen Hobby? Sicherlich gibt es bis zu einem gewissen Grad Unterschiede, was die Motivation angeht und ich kann hier nur aus meiner Perspektive sprechen sowie Vermutungen anstellen. Wenn wir es als besondere Form von Kunst betrachten, steckt dahinter ein ebenso kreativer Schaffensdrang, wie er vielen anderen Kunstgattungen zugrunde liegt. Viele Menschen haben in irgendeiner Form eine irgendwo tief in der Psyche verwurzelte Lust, etwas zu schaffen, das in erster Linie ihnen selbst Freude bereitet – freuen sich aber umso mehr, wenn diese Dinge anderen Menschen auch gefallen. Aber nicht unbedingt ist es das Endergebnis selbst, das im Vordergrund steht. Oftmals geht es um den Prozess des Kreierens selbst. Das zu erschaffende Objekt kann zum Beispiel ein Gemälde, ein Roman oder ein Musikstück sein – warum also nicht auch eine exakte Karte fiktiver Orte? Sicher, bei den meisten bleibt es eine Freizeitbeschäftigung ohne monetären Gegenwert. Gemessen an der riesigen Zahl künstlerisch tätiger Menschen ist die Masse derer, die es schaffen, damit ihren Broterwerb zu bestreiten, verschwindend gering. Das dürfte ganz besonders auch für den Bereich der Geofiktion gelten. Und dann stellt sich ja auch die Frage: Ist es wirklich erstrebenswert, ein mit Herzblut betriebenes Hobby in einen Beruf zu verwandeln?

Ansatzpunkte dafür gibt es. Opengeofiction ist sicherlich in vielen Bereichen so realistisch, dass man Städte oder Regionen gut als Versuchslabor für vielerlei Arten von geografisch relevanter Simulation verwenden kann. Und das ist sicherlich ein weiterer Punkt, was die Motivation hinter einem solchen Hobby angeht: Die oftmals sehr software- und geodatenaffinen Köpfe dahinter mögen es, unsere reale Umwelt genau zu analysieren, ihre grundsätzlichen Variablen zu übernehmen und in neue Datenstrukturen mit dem Fokus auf das Wo zu gießen. Denn das unterscheidet uns von den Erschaffern von Fantasy-Welten: Orks, Elfen und dergleichen gibt es bei uns nicht. Gleichwohl wagen wir es, Dinge auszuprobieren, die es so auf unserer Erde noch nicht gibt. So wurden inzwischen erste Hyperloop-Strecken gebaut. In Tarott entsteht ein relativ zentral gelegener, komplett autofreier Stadtteil auf einer fast vollständig künstlichen Insel. Wo gibt es das schon?

Ich bin gespannt, wie sich Opengeofiction weiterentwickelt. Denn seit dem Start im Jahre 2013 und unserem Vortrag auf der State of the Map Europe 2014 in Karlsruhe ist viel passiert und es tut sich weiterhin viel.

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