Die kartografische Ästhetik der Namen

Schon als Kind war ich von Stadtplänen fasziniert. Ich konnte mich lange in die als Stadtplan-Atlas gestalteten Hamburg-Pläne vertiefen, die wir zuhause herumliegen hatten. Ich liebte es, mich beim Blättern reihenweise von Norden nach Süden und jeweils von Westen nach Osten durch den Ballungsraum zu bewegen, imaginär natürlich. Irgendwann fing ich an, Stadtpläne erfundener Orte selber zu zeichnen, am liebsten im Maßstab 1:20.000, manchmal auch 1:15.000 oder 1:25.000. Mein Ziel war es, in handgezeichneter Form dem kartografischen Erscheinungsbild der Falk-Pläne möglichst nahe zu kommen.

Beim Zeichnen meiner Stadtpläne fiel mir schnell eine Sache auf, die mir vorher gar nicht so bewusst gewesen war: Ein Stadtplan ohne Beschriftungen sieht sehr ungewohnt aus. Speziell fehlende Straßennamen lassen einen Stadtplan „nackt“ erscheinen. So gesehen ist die kartografische Typografie die „Bekleidung“ der Stadtpläne. Zu sehen ist dies übrigens auch in späteren, am Computer gezeichneten Stadtplan-Projekten von mir wie beispielsweise den Arbeits-Zwischenständen der Stadt Tarott, die auf meinem Urbangeofiction-Blog gezeigt werden.

Dabei spielt mit Sicherheit die „gelernte“ Form von typischen kartografischen Darstellungen eine Rolle. Im Kontext von Stadtplänen, oft mit gelben Hauptverkehrsstraßen, weißen Nebenstraßen und hellgrauen beziehungsweise leicht rötlichen bebauten Gebieten, sind wir es einfach gewohnt, dass alle Straßen und Wege, Orte, wichtigen Gebäude und andere Objekte der natürlichen oder gebauten Welt beschriftet sind. Nicht zuletzt spielt bei dieser Wahrnehmung sicher eine Rolle, dass sich durch die meist überwiegend schwarzen Beschriftungen der „durchschnittliche Farbwert“ der Plandarstellungen deutlich ins Dunklere verschiebt. Dass es sich um eine gelernte Form der ästhetischen Wahrnehmung handelt wird auch dadurch deutlich, dass andere Arten von Plänen und Karten längst nicht so „nackt“ aussehen, wenn die Beschriftungen fehlen. Topografische Karten zum Beispiel kommen mit weitaus weniger Beschriftungen aus, gerade in Regionen, wo die Dichte an zu benennenden Objekten gering ist. Allerdings: Auch topografische Karten wirken sehr ungewohnt, wenn überhaupt keine Beschriftungen vorhanden sind.

Das Fehlen oder Vorhandensein von Beschriftungen, die die Namen der Orte sichtbar werden lassen, spielt aber nicht nur in optischer Hinsicht eine entscheidende Rolle. Die Namen von Orten dürften bei vielen Menschen die Fantasie anregen, besonders dann, wenn sich ihre Herkunft nicht sofort erschließt. Viele Ortsnamen zum Beispiel im deutschen Sprachraum lassen sich zwar mit gewohnten deutschen Lautbildungen aussprechen, sind aber Wörter, die man – auch in ähnlicher Form – im Duden nicht findet. Eben fuhr ich mit dem Rad in München von Neuperlach zum Hauptbahnhof. Dabei kam ich auch am Rand des Stadtteils Lehel vorbei. Ein schöner, deutsch klingender Name, der aber in Sachen Bedeutungsherkunft die Fantasie anregt. Sicher, vielen mag dieser Aspekt ziemlich egal sein und nur ein kleiner Teil der Menschheit dürfte sich in sehr detaillierter Form dafür interessieren. Ich gehe aber fest davon aus, dass zumindest unterbewusst bei jeder oder jedem etwas passiert, wenn sie oder er den nicht direkt sprachlich herleitbaren Namen eines ihr oder ihm unbekannten Ortes auf einer Karte liest.

Über ein Detail zu Namen in Karten habe ich mir in letzter Zeit viele Gedanken gemacht: Die Bindestriche in Straßennamen, die nach Personen in der Form Vorname-Nachname-Straße benannt sind. Seit einigen Jahrzehnten ist diese Form der Namensvergabe absolut in Mode und Namensvergaben im Sinne von Nachnamestraße erfolgen fast gar nicht mehr (was im Detail zu überprüfen wäre). Leerzeichen in Komposita sind in der deutschen Rechtschreibung grundsätzlich falsch (persönlich lasse ich keine Ausnahmen gelten!). Eigentlich gilt das übrigens auch in Österreich. Ich war gestern mit dem Rad nordöstlich von Salzburg nahe der Autobahn unterwegs und es juckte mich in den Fingern, die „West Autobahn“ in der OpenStreetMap-Karte in die deutlich schönere und ortografisch korrekte „Westautobahn“ zu korrigieren. Dann recherchierte ich kurz und sah: Die Autobahn-Bezeichnungen enthalten in Österreich leider offiziell „Deppenleerzeichen“!

Zum Beispiel bei vielen seit den 1980er Jahren entstandenen Stadtquartieren gibt es auf Stadtplänen eine wahre „Bindestrich-Flut“ in den Beschriftungen. Auch das hat eine ästhetische Relevanz. Zusammengeschriebene Wörter wirken aus meiner Sicht deutlich ästhetischer als Komposita mit Bindestrichen oder die falschen Komposita mit „Deppenleerzeichen“. Aber nicht nur das: Wenn es in einer Stadt oder Gemeinde nur eine Person mit dem entsprechenden Nachnamen gibt, die lokal, regional oder überregional berühmt ist, warum braucht man dann die Vorname-Nachname-Konstruktion? Eine Johann-Wolfgang-von-Goethe-Straße gibt es nicht ohne Grund sehr viel seltener als eine Goethestraße.

Folgende Abfrage bei Overpass Turbo bezüglich Goethestraßen in Bayern führte gerade zu 654 Wege-Ergebnissen (entspricht hier und bei der nachfolgenden Abfrage nicht der Anzahl der entsprechend benannten Straßen, da sich die Straßen oft aus mehreren Einzelabschnitten zusammensetzen, die hier einzeln erfasst wurden):

/*
Goethestraßen in Bayern
*/
[out:json][timeout:25];
// Bayern als Region (nach amtlichem Gemeindeschlüssel selektiert)
(
  area["de:amtlicher_gemeindeschluessel"="09"]->.a;
  (
    // Goethestraßen innerhalb der gewählten Region
    way["name"="Goethestraße"](area.a);
  );
);
// Ergebnisse ausgeben
out body;
>;
out skel qt;

Die Suche nach Johann-Wolfgang-von-Goethe-Straßen in Bayern hingegen führte nur zu fünf als Weg eingetragenen Objekten:

/*
Johann-Wolfgang-von-Goethe-Straßen in Bayern
*/
[out:json][timeout:25];
// Bayern als Region (nach amtlichem Gemeindeschlüssel selektiert)
(
  area["de:amtlicher_gemeindeschluessel"="09"]->.a;
  (
    // Johann-Wolfgang-von-Goethe-Straßen innerhalb der gewählten Region
    way["name"="Johann-Wolfgang-von-Goethe-Straße"](area.a);
  );
);
// Ergebnisse ausgeben
out body;
>;
out skel qt;

Ich plädiere also sehr intensiv dafür, im Sinne der Namensästhetik allgemein (nicht nur auf Stadtplänen und Straßenschildern!) insbesondere bei im lokalen Kontext recht eindeutigen Personennamen wieder zum Konstrukt Nachnamestraße zurückzukehren. Was in Einzelfällen gerade auch schon wieder passiert, siehe hier: Borchertstraße in Hamburg-Stellingen. Ausrutscher mit dem eigentlich nie verwendeten Konstrukt Nachname-Straße (wie beim recht neuen Loerbroks-Weg in der Gemeinde meiner Jugend) sind zu vermeiden. Und: Nein, lieber Erich Kästner, auch, wenn du es anders wolltest: zumindest deine Straßennamen haben in Deutschland korrekter (und logischer!) Weise Bindestriche, wenn sie deinen Vornamen beinhalten. Gemäß meinem Plädoyer sollte es aber stattdessen nur Kästnerstraßen geben!

Hätte ich mich in meinem UNIGIS-Masterstudium noch nicht auf das Thema der Verbesserung von Fußgänger-Routing mit OpenStreetMap-Daten festgelegt, hätte sich hieraus bestimmt auch ein Masterarbeits-Thema entwickeln lassen.

2 Kommentare zu “Die kartografische Ästhetik der Namen

  1. Mit Johann Sebastian Bach und seinen an Vornamen und musikalischem Talent reich beschenkten Kindern und Enkeln ließe sich ein umfängliches Neubauviertel bestreiten. Die zugehörigen Bindestriche können gleich als Lattenzäune Verwendung finden.

    Oder wie wäre es mit einer Pippilotta-Viktualia-Rollgardina-Pfefferminz-Efraimstochter-Langstrumpf-Straße?

    1. Danke. Ja, die Pippi-[…]-Langstrumpf-Straße hat meine volle Zustimmung beim Vorname(n)-Nachname(n)-Straßen-Schema. Dafür aber bitte einfach eine Lindgrenstraße!

      Und die Großfamilie Bach hat ja auch noch ein ganz anderes „Problem“ mit ihrem Nachnamen, was die Eindeutigkeit angeht. „Ihre“ Straße befindet sich auch manchmal abseits des Komponistenviertels, parallel zu einem kleinen Fließgewässer.

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